DIE MACHT DER GENE
Von: Patrick Bernau
Foto: Retrozap
Das Erbgut beeinflusst Bildung und Vermögen. Was heißt das für die soziale Gerechtigkeit?
Es gibt nicht vieles, was in den vergangenen Jahren so unterschätzt wurde wie die Rolle der Gene für die menschliche Entwicklung. Das Erbgut der Menschen hat Einfluss auf ihre Körpergröße, auf ihre Haarfarbe und ihr Gewicht – doch dass es auch Einfluss auf Intelligenz, Geduld oder soziales Verhalten haben soll, dieser Gedanke war jahrzehntelang nicht in Mode.
Aus Angst vor hässlicher Eugenik wollten vor allem progressive Menschen den Gedanken nicht zulassen, wirft ihnen jetzt die Psychologin Kathryn Paige Harden vor, die den Zusammenhang von Genen und menschlicher Entwicklung jahrelang erforscht hat. Die Argumente, mit denen die Macht der Gene kleingeredet wurde, sind bekannt: Gene und Umwelt wirkten zusammen. Am Ende komme es auf die ererbten Informationen kaum noch an: Die Epigenetik habe nämlich gezeigt, dass die sozialen Umstände selbst die Aktivität der Gene beeinflussten. Überhaupt könne man Intelligenz nicht richtig messen, sie sei sowieso nur ein soziales Konstrukt.
Gene haben in den USA mehr Einfluss auf Bildungserfolg als die soziale Herkunft
So einfach ist es aber nicht. Der Intellekt zum Beispiel hat durchaus messbaren Einfluss auf das Leben der Menschen – bis hin dazu, wie lange sie leben.
Die Wahrscheinlichkeit, dass amerikanische Kinder vor dem dritten Geburtstag mit dem Sprechen beginnen. Wie hoch ihr Intelligenzquotient mit fünf Jahren ist. Wie sozial kompetent Kinder mit neun Jahren wirken. Wie offen sie für neue Erfahrungen sind und ob sie als Teenager einen Beruf mit hohem Status anstreben: All das korreliert mit einem Faktor, der sich zu einem guten Teil genetisch erklären lässt. Damit ist noch keine Vorhersage eines individuellen Lebens möglich. Aber Gene sind in den Vereinigten Staaten für rund 10 bis 15 Prozent der individuellen Unterschiede im Bildungserfolg verantwortlich, nach einzelnen Schätzungen sogar bis zu 40 Prozent.
Klingt wenig? Es ist viel. Selbst in Amerika macht die soziale Herkunft nur 11 Prozent aus. Oder, ein Vergleich aus einer ganz anderen Ecke: Nur 7 Prozent der Gewichtsunterschiede zwischen Menschen werden vom Geschlecht bestimmt. Die Gene haben also einen sehr nennenswerten Einfluss auf Bildung, Einkommen und Vermögen.
Dabei ist es durchaus komplex, wie soziale Einflüsse auf die genetischen Einflüsse wirken. Stellen Sie sich Blumensamen vor. Haben Sie schlechten Boden und kein Wasser, wachsen alle nicht. Auf gutem Boden aber wachsen alle, so hoch sie nur können – und die genetischen Unterschiede werden umso deutlicher. So entsteht das Paradox der Gene: Je besser ein Bildungssystem soziale Einflüsse zurückdrängt, desto deutlicher werden die genetischen.
Konservative und progressive Folgerungen aus der Genforschung
Bis hierhin ist es nicht neu, was Harden in ihrem neuen Buch schreibt, das im September erscheint. Sie singt da mit einem Chor, der in den vergangenen Jahren lauter geworden ist. Tenor: Der Einfluss der Gene auf unser Leben ist größer als üblicherweise angenommen.
Es ist kein Zufall, dass diese Erkenntnis gerade jetzt reift: Fortschritte in der Gen-Sequenzierung und in der Datenverarbeitung haben es möglich gemacht, dass in Studien inzwischen teils mehr als hunderttausend Menschen untersucht wurden, sodass die Forscher auch komplexe Einflüsse finden konnten, die eben nicht nur mit einem Gen zu tun haben, sondern mit einer ganzen Reihe. Traditionelle Zwillingsstudien runden das Bild ab. Furore machte zum Beispiel der Genforscher Robert Plomin, der vor drei Jahren beschrieb, wie wichtig Gene für das Schicksal der Einzelnen sind. Auch dieses Buch stellten wir damals in FAZIT vor.
Bisher hat diese Feststellung vor allem in konservativen Kreisen Resonanz gefunden. In diesen war es politisch leichter zu verwerten. Wer mit dem Erbgut argumentiert, sagt schnell: Es sei kein Wunder, dass weniger Arbeiterkinder aufs Gymnasium kommen – sie hätten einfach nicht die richtigen Gene.
Harden argumentiert anders. Als bekennend progressive Frau wirbt sie dafür, dass auch in ihrer Gedankenwelt der Einfluss der Gene anerkannt wird. Ihn zu leugnen schade nur den Menschen selbst, denen nicht die richtige Hilfe zuteilwerde. Gleichzeitig will Harden sich nicht mit dem einfachen Satz abfinden, dass Leute mit besseren Genen mehr Erfolg verdient hätten. Alle Eltern wissen, dass Kinder unterschiedliche Gene haben, und wünschen ihnen trotzdem das gleiche Glück. Ja, in der Familie zeigt sich besonders, dass die Gen-Ausstattung eine „Lotterie“ ist, wie Harden sie betrachtet: Selbst unter Geschwistern erbt nicht jedes Kind die gleichen Gene. Und alle Eltern sehen, was das fürs Leben ausmacht.
Was ist gerecht?
Was also tun? Harden sieht drei Möglichkeiten, politisch auf genetische Unterschiede zu reagieren: Erstens eugenisch – das wirft sie den Konservativen vor. Zweitens ignorant – das wirft sie den Progressiven vor. Sie wirbt stattdessen dafür, dass Politik die genetischen Unterschiede so gut wie möglich ausgleicht.
Nun gibt es da durchaus unterschiedliche Methoden, auch das erkennt Harden an. Beispiel Bildung: Es gibt sicher Bildungsreformen, durch die sich die Leistung aller Schüler verbessert. Dann gibt es auch Maßnahmen, die vor allem den schwächeren Schülern nützen, aber den starken nicht schaden. Beide dürften unstrittig sein. Was aber, wenn die stärkeren Schüler unter genau den Maßnahmen leiden, die die schwächeren voranbringen? Was zum Beispiel, wenn Geld von Schulen in guten Vierteln auf Brennpunktschulen umverteilt werden soll?
Der Philosoph John Rawls hat einst als Gerechtigkeitskriterium vorgeschlagen, dass alle sozialen Unterschiede dann gerechtfertigt seien, wenn sie die Lage der Schwächsten verbessern. Das wäre schon mal ein Kriterium. Rawls verband das aber mit einer zweiten Bedingung: Es müsse Chancengleichheit herrschen, die besseren Positionen müssten für jeden erreichbar sein. Wie würde Rawls wohl diese Nebenbedingung auf dem heutigen Stand der Genforschung sehen? Was sagen heutige Philosophen, Pädagogen, Soziologen und Ökonomen dazu? Es ist höchste Zeit, dass mehr über solche Fragen nachgedacht wird, statt den Einfluss der Gene zu bestreiten.
In der Zwischenzeit gibt es im ganz konkreten Schulsystem sowieso noch so viel Verbesserungsbedarf, dass die philosophischen Fragen erst mal nicht relevant sind. In den jüngsten Bildungsvergleichen waren die Bundesländer mit den höchsten Durchschnittspunktzahlen diejenigen, in denen sowohl die starken als auch die schwachen Schüler besonders gut abschnitten. Gerade erst hat ein Team deutscher Ökonomen (darunter zum Beispiel Pia Pinger und Armin Falk) beschrieben, dass Kinder aus sozial schwachen Haushalten einen geringeren Intelligenzquotienten vorweisen können, weniger Geduld haben, höhere Risiken eingehen und sich weniger altruistisch verhalten. Sie haben aber auch gezeigt, dass einiges davon mit Erziehung zu tun hat und sich politisch dagegen noch manches tun lässt.