DAS GEHEIMNIS DER KROATISCHEN KARSTHÖHLE
Von: Harald John
Foto: Uwe Zucchi
Volksbund findet Überreste von sieben deutschen Soldaten – 77 Jahre nach ihrem Tod
In einer 14 Meter tiefen Karsthöhle nahe der kroatischen Küstenstadt Rijeka haben Experten des Volksbundes die sterblichen Überreste von sieben deutschen Soldaten gefunden. Offenbar wurden sie beim Rückzug der Wehrmacht auf dem Balkan von Partisanen erschossen und ihre Leichen in die Tiefe geworfen. Die Gebeine werden in Kürze auf der deutschen Kriegsgräberstätte in Zagreb beigesetzt.
Die Hügel über Rijeka prägen ein wildes, unzugängliches Land. Der weiße Karststein im struppigen Grün verbreitet einen Hauch von Winnetou-Atmosphäre, aber in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges war hier kein Platz für Indianerromantik.
Auf dem Rückzug
Deutsche Truppen der Heeresgruppe E aus Griechenland befanden sich auf dem Rückzug, oft in zusammengewürfelten Kampfgruppen. Gebirgsjäger, Infanteristen und Angehörige der Kriegsmarine versuchten, sich Richtung Westen durchzuschlagen. Die Schiffe, die deutsche Truppen einst nach Griechenland gebracht hatten, lagen auf dem Grund des Mittelmeeres, britische Jagdflugzeuge sicherten den Alliierten die Lufthoheit. Und in den Schluchten des Balkan lauerten jugoslawische Partisanen aus Titos Armee, aber auch italienische Partisanen, serbische Freischärler, ehemalige Soldaten der bulgarischen Armee.
Auf der strategisch wichtigen Höhe bei Viskovo mit Blick auf die Adriaküste versuchten die Deutschen, Rückzugswege für nachrückende Truppenteile frei zu halten. Zwischen mächtigen Steinquadern bauten sie Deckungen, in denen sie mit Maschinengewehren und Granatwerfern hockten. Doch für viele wurden diese Hügel zum Grab.
77 Jahre später sind Thomas Schock, Leiter des Volksbund-Umbettungsdienstes, und sein Team hier unterwegs, sie haben Spaten, Taschenlampen, Helme und eine schmale Strickleiter dabei. Wo andere an Badeausflüge an die Adria denken, wollen sie deutsche Soldaten finden und identifizieren.
Das ist der Auftrag des Volksbundes: Kriegstote finden, sie würdig bestatten und möglichen Angehörigen Gewissheit über das Schicksal der Vermissten geben. Die Auswertung von Berichten hat ergeben, dass es in den Höhlen von Kroatien viele Massengräber gibt. „Ein Massengrab“, erläutert Thomas Schock, „sind mehr als drei Tote, deren Überreste nicht mehr trennbar sind.“
Ring aus der Tiefe
Nicht mehr trennbar. Das gilt auch für die Toten der Karsthöhle. Männer wie Marko und Leonardo, sonnengebräunt und gute Kenner des Geländes, holen nach und nach die sterblichen Überreste aus 14 Metern Tiefe. Nach knapp drei Stunden haben sie Knochen, Schädel, Wehrmachtshelme vom Modell „M 40“, aber auch Uniformknöpfe, Münzen, eine Zahnbürste, Kochgeschirr und Munition aus der Höhle geborgen. Der Silberstempel eines Ringes verweist auf einen Juwelier in Pforzheim.
Spurensuche in schlammiger Erde und mittels Mobiltelefon. Wenigstens auf die giftigen Schlangen stoßen sie dieses Mal nicht, nur eine fette Kröte und einen Feuersalamander sehen sie unten. Vor den giftigen Vipern, die sich im Unterholz schlängeln, haben sie großen Respekt. Aber auch vor den Unwägbarkeiten der Arbeit unter der Erdoberfläche. Eine vernünftige Absicherung mit Helm und Stirnlampe ist Standard, die Arbeit in der Tiefe ist schweißtreibend. Oben füllt sich der Platz vor der Höhle nach und nach mit Fundstücken. Umbetter Thomas Schock zeigt sich mit der Arbeit zufrieden.
Die Arbeit eines Umbetters
Umbetter – das ist eine Berufsbezeichnung, die Schock stets erklären muss. Der 57-Jährige lernte Tischler, wollte Fischer werden, vertrug die Hochsee nicht und studierte Forstwirtschaft in Göttingen. „Aber nach einem Jahr habe ich gemerkt, dass das Leben als Förster zu langweilig ist.“ Er ging ins Baltikum und lernte die Arbeit des Volksbundes kennen.
Heute ist er ein gewiefter Archäologe des Krieges, er kann an Blumen und Bäumen erkennen, wo die Toten ruhen. Aufschneiderei? Gewiss nicht, das wird jedem klar, der den Mann mit dem klaren Akzent der Ostsee-Küste reden hört. „Du siehst einen Birkenwald. Dazwischen wachsen junge Kiefern. Sie sind Rohbodenkeimer, sie gedeihen nur dort, wo gegraben wurde.“
Dotterblumen weisen zu den Toten
Ein zweites Beispiel: eine Wiese mit gelben Sumpfdotterblumen, dazwischen weißes Wiesenschaumkraut. Es markiert die Gräber der Toten, die nach damaliger Dienstvorschrift mit dem Kopf nach Norden bestattet werden mussten – bergan in 1,20 Meter Tiefe und stets in einem Meter Abstand zum Nachbarn. Auch deutsche Gründlichkeit kann bei der Suche helfen.
Mittlerweile kratzen die Temperaturen im Wäldchen an der 36-Grad-Marke, alle Funde sind aus der Höhle geborgen und der 30-minütige Fußmarsch zurück führt die Umbetter auf eine kleine Lichtung, wo sie ihre Funde begutachten und verzeichnen. Sorgfältig werden Knochen gemessen und abgelegt.
Am Zustand eines Unterkiefers, an der Abnutzung eines Oberschenkelknochens lässt sich das Alter der Toten bestimmen. Thomas Schock und seine zwölf Umbetter-Kollegen beim Volksbund, die von Frankreich bis Russland, vom Baltikum über Belarus bis Georgien im Einsatz sind, haben ihre eigenen Methoden, das Alter zu bestimmen. „Auch vom Zustand der Schambeinfuge kann man recht präzise auf das Alter schließen“, sagt Schock.
Detektivarbeit in 25 Ländern
Was die Umbetter in derzeit 25 Ländern tun, gleicht immer mehr der Detektivarbeit. Wo vor Jahren noch hunderte Tote in einem Massengrab gefunden wurden, geht es heute an „Einzellagen“. Hier hilft die Digitalisierung: Mit Drohnen lassen sich Felder und Wälder gezielt abfliegen und untersuchen, „Geo-Radar“ scannt den Boden nach Gegenständen und Erdauflockerungen ab.
Und doch machen Zufallsfunde rund ein Drittel der Entdeckungen aus. So sei gerade unter einem Supermarkt in Russland eine große Anzahl Gebeine geortet worden. Nicht immer machen es die Länder den Suchtrupps leicht. So darf der Volksbund aktuell in der Region Wolgograd, dem früheren Stalingrad, nicht graben. Zwei russische Sucher hatten unachtsam mit Munition hantiert und waren an den Folgen der Explosion gestorben.
Im Karstgebiet hat das Volksbund-Team nur kleinere Mengen Munition gefunden und schnell als italienische Gewehrmunition identifiziert. Partisanen hätten oft erbeutete Gewehre benutzt und amerikanische Uniformen getragen. Während Fundstücke wie Munition oder Waffenteile vernichtet werden, kommen die Erkennungsmarken der Soldaten mit in die Volksbund-Zentrale nach Kassel-Niestetal.
Hier werden die Marken, kurz „EM“ genannt, sorgfältig gereinigt und lesbar gemacht, denn die eingestanzte Nummer gibt im besten Fall Auskunft über die Identität des Toten. In Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv, der ehemaligen Deutschen Dienststelle, kann der Name ermittelt, können Angehörige benachrichtigt werden. Oft wollen die Nachfahren den Umbettern persönlich danken, weil sie das Schicksal des Toten klären konnten. Höhepunkte in einem Berufsalltag, der auch genug dunkle Seiten kennt.
Endstation Mirogoj-Friedhof
Die Reise der sieben Toten aus der Karsthöhle endet auf dem mächtigen Mirogoj-Friedhof, dem Zentralfriedhof der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Hier werden sie auf der deutschen Kriegsgräberstätte, auf der mehr als 4.000 Angehörige der Wehrmacht liegen, eingebettet. Vor diesem Rasenfeld mit den Namen der Toten steht das Mahnmal für das Massaker von Bleiburg, wo Mitte Mai 1945 mehr als 45.000 Kroaten erschossen wurden.
Der britische Premierminister Winston Churchill hat die Situation im Südosten Europas einmal treffend so beschrieben: „Der Balkan produziert mehr Geschichte, als er verbrauchen kann.“ Für dieses Mal ist der Einsatz für den Volksbund beendet. Doch Thomas Schock weiß, dass es noch viele, viele weitere Orte wie diese kroatische Höhle gibt. Es wartet harte Arbeit da draußen. Und so manches spannende Geheimnis.